HOMO LUDENS, CREATOR MUNDI
Ulrich Krempel
1. Der Künstler als Teilchenbeschleuniger
Thomas Virnichs Universum liegt in Stücken auf seinem Hof, in den Ateliers, auf Paletten und Stahlregalen, unter den Staubschichten der vorbeieilenden Zeit. Das noch Unentdeckte schlummert auf Schrottplätzen und in Antiquitätenläden.
Der Bildhauer befindet sich der Wirklichkeit gegenüber in einem ständigen Anlauf: Er fügt die Atome der Welt ebenso zusammen zu neuen Dingen, wie er die scheinbare Sicherheit der Erscheinung der Dinge zerlegt in eine tausendfache Vielfalt einzelner Teile. Virnich glaubt nicht an Sicherheit der Erscheinung. Er mißtraut den Dingen und Gegenständen, oder, besser gesagt, er ringt ihnen neue Aspekte ihrer Erscheinung ab. Der Bildhauer blickt hinter das Vorgefundene, er formuliert das Geheimnis — sei es das leere Volumen im Innern einer Tonne oder das Leervolumen, das eine Muschel in sich birgt, der denkbare Volumeninhalt eines Kastens oder die Fläche, die eine Kugelform aufweist. Er sieht auf Dinge anders als üblich, als unsere landläufige, faule, unpräzise Betrachtung. Jeder Zugriff von Virnich auf die Gegenstände, jedes Sichbemächtigen der Dinge läuft ab in einem ständigen Befassen, Anfassen, Zerlegen, Ausgießen, Vermessen, Abformen und Zusammensetzen; der Zugriff auf die Dinge ist ein wirklicher, die Elemente, die die Dinge bilden oder in die die Dinge zerfallen, befinden sich in einem rasenden Umlauf um den schöpfenden Künstler. Der Künstler als Manipulator und Kreator ist einer, der die beiden Prozesse kaum noch voneinander trennen kann. In der Bearbeitung liegt die Arbeit, im Ablauschen der Eigenheiten des Gegenstandes beginnt der kreative Prozeß.
So beschleunigt Thomas Virnich die Dinge, die Teilchen, aus denen sich die Welt sichtbar zusammensetzt. In seinen Ateliers ist viel vom Cargo dieser Welt versammelt, all die nutzvollen wie nutzlosen Dinge, die uns begleiten und die unsere ästhetischen Lebensalter formulieren. Virnich versammelt Fundstücke, um sie befragen zu können, um sie in Erwägung zu ziehen für eine bildhauerische Reflexion. Sein Vorgehen ist ein ganz und gar archaisches: Der Sammler trifft sich mit dem neugierigen Kind, das wissen muß, wie es im Innern eines Balles aussieht, wie diese Maschine funktioniert, wie denn ein solches grobes Ganzes zerlegt werden kann. Ebenso will er wissen, wie das Volumen eines Steins in einem anderen Medium erscheint, wie die Abformung einer Oberfläche in einem zweiten Material aussieht. Und die Dinge in ihren diesen Dimensionen scheinen ihm ebensowenig vertrauenerweckend wie in ihrer gegebenen Formen: Das Buch wird plötzlich überlebensgroß, nichts Geschriebenes, aber allerlei Gemaltes und Punktiertes, Geklebtes und Montiertes findet sich in ihm.
Virnich in seiner Verve und Geschwindigkeit läßt einen zunächst vergessen, daß sich der Künstler auch in einem künstlerischen Kontinuum befindet: Die Montage, das objet trouvé, die Einführung der bislang bildunwürdigen Materialien in die bildende Kunst zu Beginn des Jahrhunderts sind ihm äußerst verwandte Ereignisse der Kunstgeschichte. Mit dem Kubismus seiner Zerlegung der Formen in die Verschiedenartigkeit von Ansichten hat er gemeinsam die Neugier an der allumfassenden Durchdringung der Dinge. Aber von den Strategien des Kubismus unterscheidet Virnich der Verzicht auf eine systematische und konzeptuelle Durchdringung des Problems der räumlichen Abbildung oder der Aufbrechung der Seitenabrollung des Gegenstandes. Virnich forscht zugleich in Tiefe, Breite und Höhe, arbeitet sich durch die Gegenstände hindurch, um auf der anderen Seite wieder anzukommen, oder er vertieft einen Aspekt der Erscheinung eines bestimmten Gegenstandes. Er verpackt das, was er geschaffen hat, gerne in weiteren Aspekten dieser Arbeit; umhüllt das gewonnene Volumen, entstanden aus Additionen von einzelnen anderen Volumina, mit Verpackungen und Schachteln, mit Hüllen oder einer Wiederholung der gefundenen Form. Die rekomponierte Violinenform im Violinenkasten ist dafür ein sprechendes Beispiel. Diese Manipulation ist eine fortwährende, sie schreitet immer fort und kommt eigentlich niemals an einem einen Endpunkt an.
Objet trouvé: Die gefundenen und der Wirklichkeit entnommenen Dinge geraten bei Virnich in eine eigenartige Traumzone. Ihre Existenz wird der Wirklichkeit nachhaltig entzogen, und nur ihre Form, das Konzert ihrer räumlichen und formalen Qualitäten ist es, das den Künstler an ihnen interessiert. Die gefundenen Gegenstände werden verwandelt, zerlegt, analysiert, skelettiert, sie erscheinen in ganz neuen Zusammenhängen und entziehen sich rationeller Durchdringung, weil sie längst Objekt des künstlerischen Handelns und so auch verändertes Subjekt geworden sind. Ein eigenartiger Zauber haftet diesen Gegenständen an, ein Zauber, der auch unserer hausmütterlichen Neigung zum Sammeln und Zusammentragen, zum Polieren und Pflegen, zum Aufheben und Ausstellen entspricht. Unsere Begierde auf den Gegenstand wächst noch mit der Art von Verwandlung, die ihm der Künstler hat angedeihen lassen.
2. Der Künstler als Atlas und Jongleur
»Ja, ich weiß, wir sind nur Geschöpfe aus vergeblicher Materie, aber sublim genug, um Gott und unsere Seele erfunden zu haben. So sublim, mein Freund! «. 1
Wer sich der Materie bemächtigt, der Dinge annimmt, um aus ihnen Neues entstehen zu lassen, ist Schöpfer und als Schöpfer Rivale Gottes —soweit gingen schon mittelalterliche Vorstellungen von der Aufgabe des Künstlers. So radikal, wie Mallarmé es formuliert hat, ist indes die Position des Umgangs mit der Welt und ihrem gedachten Schöpfer erst in den letzten einhundert Jahren angedacht worden. Der Künstler als Konkurrent und Rivale des Allerschaffers wird zur großen Figur, zu einer, die über die Vergeblichkeit ihres Handelns bereits sprechen kann, die von ihren eigenen Krisen und der Beiläufigkeit ihrer eigenen Bedeutung weiß.
Und doch liegt in dem Erkennen dieser eigenen Schwäche erst die Fähigkeit des Zugehenkönnens auf die neue Erschaffung der Welt durch den Künstler. Das Spiel mit der Welt wird zu befreiendem Handeln, die Spiele setzen da ein, wo alles schon gewußt wird, alles bekannt ist. So ist es beispielsweise mit dem Bild der Erde als Kugel, einst eine revolutionäre Vorstellung und von Strafen und Verdikten bei ihrer Formulierung bedroht. Heute ist die Kugel als Bild unserer Erde visueller Allgemeinplatz. In der Badewanne dümpelt der Gummiball, bedruckt mit den Erdteilen. Auf dem Bücherschrank in der Bibliothek leuchtet der Globus, verrät die Gebildetheit des Informierten, und Erdumfang und Erddurchmesser sind Frageeinheiten in der Schulausbildung geworden. Daß wir die Welt heute besser kennen, hilft uns indes beim Begreifen ihres Soseins wenig. Wer kann sich die gesamten Probleme dieser Welt eigentlich noch auf die Schultern laden, so wie sich unsere Vorfahren einst
vorstellten, daß Atlas die Gesamtheit des Weltalls auf seinen Schultern trüge? Ist nicht die Position des Künstlers, der sich heute noch mit Abbildern von Wirklichkeit, und sei es zerlegend und karikierend, sezierend und skelettierend, beschäftigt, ein atavistisches, ein Eingeständnis gar der Unfähigkeit, die Welt im Einzelnen noch dezidiert zu begreifen? Der Künstler als Kraftmaxe. Das Bild der Welt machen heißt, sich ein Stück weit all das aufzuladen, was schon da ist, und es zu verändern in das, das man sich unter ihm vorstellt. Wenn Thomas Virnich auf das Bild der Welt losstürzt, liegt in dieser Bemächtigung einer Form, in diesem Durchdringen-wollen auch ein Versuch der Verortung von Künstler und Publikum heute. Wo bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich: ein alter Künstlerspruch der Neu-zeit, einer, der von Besorgtheit sich selbst gegenüber etwas spüren läßt. Das kann nicht untergehen in dem spielerischen, leicht gehandhabten Versuch, der Erde eine andere Form zu geben, sie zerlegbar zu machen, sie einsichtig und durchsichtig zu machen. Der große Globus von Thomas Virnich ist zunächst ein bildhauerisches Spiel; es ist ein Spiel mit der Form und mit der Semantik, die dieser Form innewohnt. Ein Bild von verändertem Aussehen, das sich auf die Vorstellungskraft des Menschen im Raum und in der Tradition von Notationen bezieht. Der Künstler muß die Welt nicht tragen, aber er muß sie neu machen, und er muß sie so machen, wie er sie sieht und erforscht. Der große Globus mit seinen veränderten Erdmassen und Wasserflächen birgt unter sich, entfernt der Künstler die ersten großen Segmente aus der oberen Kugelform, zwei weitere Erdkugeln, übereinandergesetzt und in Beziehung zueinander, abfluchtend bis zu einem festen Kern hin, aus dem sich alles entwickelt. Der zwiebelförmig übereinandergelegte Formenkanon der drei Kugeln baut sich auf wie die alten Sphären, die frühe Welterkennung um die Erde gelegt sah, wie Planetenbahnen übereinander und untereinander. Der Künstler bürdet sich so die alte Erde noch einmal auf, macht sie zu einem neuen Bildereignis, stellt sich zu ihr in Relation, indem er ein Format für große Formen wählt, das seinem Körpervolumen, seinem Greifvermögen, seiner Dimension entspricht. Der Künstler ist Atlas, aber er ist auch derjenige, der die alte Fron leichtfertig in ein spielerisches Umgehen mit diesen Formen verwandelt hat: Da schleudert er seine Bälle in die Luft, Bälle, die die Erde sind, Kugeln, die unsere Welt bedeuten.
Grandville hat in seiner Illustration von 1844 (Ein Taschenspieler — Jongleur) dieses phantastische und freie Umgehen mit den Welten vorexerziert: Mir erscheint die Figur des sonnengottartigen Jongleurs, der immer noch eine Erde in seiner Tasche hat, wie die Figur des Künstlers, der mit dem schon längst Bekannten immer wieder neu und anders umgehen muß. Und vorne, auf einer der bekannten und den weiten Raum füllenden sphärischen Kugeln, der kleine entsetzt-entzückte Rezensent, dem da unversehens ein Geschenk in Form eines Ehrenzeichens zuteil wird — und sei es nur das, daß er sich im Anblick des frei arbeitenden Künstler-Jongleurs bewundernd verliert.
3. Himmel und Erde, oder: Blicke von unten nach oben und von oben nach unten
Die Welt ist vermessen, umrundet, kartographiert und aufgenommen; wir haben uns gerade daran gewöhnt, ihr Bild aus großer Distanz vorgeführt zu bekommen: Die Astronauten und Kosmonauten haben die Erde aus dem Welt-all und vom Mond aus gesehen, fotografiert, gefilmt — wir kennen die Bilder. Der blaue Planet, schöne ferne Kugel.
Die Kugel ist der Ausgangspunkt für die Erfahrung der Menschen von dem Universum, in dem sie leben. Wo der Künstler heute hinter unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse zurückgreift in der individuellen Adaption der Form der Kugel, steht er am Ende eines langen Prozesses von Weltergreifung in sphärischen Bildern durch die Menschen. Uns sind diese Dinge wenig bewußt, aber dieses Aufgreifen der Kugelform steht am Ende einer langen Entwicklung von Darstellung von Welt, deren Anfang in einer formgewordenen Vorstellung von der Unendlichkeit des Weltalls liegt, die der begrenzten menschlichen Erfahrung dem Blick von der Erdoberfläche in den Himmel hinein entspricht. Die früheste solche Formulierung finden wir in der marmornen Statue eines Atlas, des >Atlas Farnese<, der eine mit reliefierten Sternbildern versehene Himmelskugel trägt, entstanden im 2. Jahrhundert nach Christus und gegen Ende des i6. Jahrhunderts in den Caracalla-Thermen in Rom aufgefunden.z Seit diesem Zeitpunkt ist sie das älteste uns zur Verfügung stehende Zeugnis von der Vorstellung der Menschen vom All. Die Figur des Atlas trägt eine Himmelskugel, die die Konstellationen der Sterne nach Ptolemäus vorführt. Ein Kupferstich des 18. Jahrhunderts (aus: Giovanni Battista Passeri, Atlas Farnesianus marmoreus insigne vetustatis monumentum commentario) zeigt die Konstellationen auf diesem Himmelsglobus, gestützt und geschützt durch die marmorne Hand des Atlas. In diesem einzigen erhaltenen Globus aus der Antike ist die menschliche Vorstellung von der Unendlichkeit des uns umgebenden Himmelsraumes in jene Form der Kugel gebracht, die auch ein altes Symbol für ein Gebilde ohne Anfang und Ende in der bildenden Kunst ist. Der Atlas, der diesen Himmel trägt, hat dienende Funktion: Er ist derjenige, dessen Dienstbarkeit die ruhige Existenz des globalen Sinngefüges erst möglich macht.
Das Bild des Alls, des Himmels und das Bewußtsein von unserem Ort, der Erde stehen, das ist hier zu bemerken, schon sehr früh in engem Zusammenhang. In einem persischen Himmelsglobus, entstanden zwischen 1178 und 131o, dem Globus des Muhammad Ibn Mu’Ayyad Al-‚Urdhi, für wissenschaftliche Arbeiten der Sternwarte von Merägha angefertigt, ist die Kugel auf verschiedene Breitengrade einstellbar und so Ausdruck der Standortgebundenheit der Betrachtung. Auch hier hat der Himmelsglobus eine sphärische Gestalt, weil er als solche mittels der Gradeinteilung zur Position des Betrachters und dem sich wandelnden Bild der Sterne am Firmament, hervorgerufen durch die Erddrehung, in Beziehung zu bringen ist. Mittels des Himmelsglobus kann der Ablauf der Sternbilder in einer fiktiven Zeit wiederholt werden; ein Spiel, wie es heute in den Fiktionen des Planetariums vorgeführt wird. In jenen Zeiten blieben jedoch die Vorstellungen des Weltalls in sphärischer Form, wie sie sich in den Globen des Himmels niederschlugen, ohne vergleichbare Darstellung der Erde; denn wohl waren schon die Sterne und der Mond in ihrer runden Form als solche erkannt, aber noch war die Erde selbst nicht begriffen worden als ein sphärisches Gebilde, eine Kugel etwa. Eher verstand man die Erde als eine eckige oder runde Scheibe, eine Betrachtungsweise, die mit der beschränkten Wahrnehmung des Menschen um seine eigene Sehachse und im Kreis um seinen eigenen Standpunkt in Zusammenhang steht. Erst mit den großen Reisen und Entdeckungen des 15. Jahrhunderts drängte sich in das Bewußtsein der Reisenden und Kartographen, der zurückkehrenden Seefahrer und Abenteurer das Wissen davon, daß sie ihre Reisen nicht auf einer Scheibe, sondern auf einem runden Gebilde zurückgelegt hatten, auf dem jeder Weg in gleicher Richtung letztlich wieder zum Ausgangspunkt führen mußte. Darstellungen wie die des Hieronymus Greff von 15o7 (Darstellung des Mundus, Illustration zu Virgils Georgica) greifen die runde Form der Terra (der Erde) auf und fügen die weiteren Elemente in Sphären hinzu: das Wasser, die Luft, das Feuer sind die nächsten rund um die Erde angelegten Sphären, gefolgt vom Mond, von Merkur, Venus, der Sonne und den übrigen Planeten. Hier ist die tradierte Darstellung möglicherweise schon eine ambivalente, denn die Erde zeigt das Rund, das sie auch in den Darstellungen des Mittelalters gelegentlich eingenommen hat; meint hier aber möglicherweise schon eine konkret andere Welterfahrung, der Welt als Kugel. Zugleich verbindet sich diese Darstellung mit den üblichen Demonstrationszeichnungen des Mittelalters, in denen die Erde mit den Elementen in Verbindung gebracht und in ein eher metaphysisches Weltbild der Kosmographien eingefügt ist.
Die mit der Renaissance beginnende Welteroberung hat auch für die künstlerische Arbeit neue Dimensionen der Darstellung eröffnet. Albrecht Dürers Darstellung des nördlichen Himmels von 1515 gehört zu den ersten gedruckten Karten des nördlichen und südlichen Sternenhimmels; hier ist die Idee der auf die eine gewölbte Kreisform projizierten Sicht des Himmels verbunden mit einem mit Gradteilung versehenen Kreis und symbolischer Darstellung der zwölf Bilder des Tierkreises. Die Welteroberung der Renaissancemenschen geht hin bis zu dem dringenden Wunsch, die Dinge, die man da erkannt hat, auch immer bei sich zu führen. Joseph Moxson, der Hydrograph des britischen Königs, entwickelte gegen Ende des 17. Jahrhunderts den Typus des Taschenglobus, »eine Erdkugel in einer etwas größeren Kapsel, die in ihrem Inneren das Himmelsgewölbe zeigt«,. Solch ständiger Beleg für die Eingebundenheit der Erde in ein größeres Ganzes zeigt zugleich einen wichtigen Aspekt der möglichen Weltbetrachtung von Erde und außerhalb der Erde existierendem All. Der Blick von unten nach oben ist in diesem Taschenglobus ebenso enthalten wie der Blick von oben nach unten. Der gewöhnliche Blick des Menschen, des Untenstehenden nach oben ins Weltall spiegelt sich im Himmelsglobus; mit ihm in direkter Beziehung ist der Blick auf die Erde, der von außen erfolgt; zum ersten Mal kann das Auge des Betrachters im Weltall schweifen
und mit einer kleinen Wendung einen Betrachtungspunkt im All zurück auf die Erde einnehmen. Die Blicke auf die Welt unten und oben haben sich hier zum ersten Mal in Beziehung gesetzt; einen langen Weg hat es gebraucht, bis Himmelsglobus und Erdglobus endlich gleichberechtigt nebeneinander stehen. Das typische Paar von Himmels- und Erdgloben, wie es die Bibliotheken seit der Renaissance zunehmend bevölkert hat, ist denn auch Ausdruck für die schließliche Dialektik von Welterkenntnis, wie sie sich in diesen Kugeln ausdrückt.
Aber zurück zu unserem Künstler am ausgehenden 10. Jahrhundert. Wir haben schon gesagt: Die Welt ist erkannt, beschrieben, kartographiert, vermessen — was bleibt da noch zu tun? Vor über 100 Jahren hat Luigi Pirandello in einem Brief (10.12.i887) an seine Schwester geschrieben: »Ich für meine Person habe keinerlei Traurigkeit; aber ich lache, lache, daß es lustig zu sehen ist. Es ist nämlich so, daß ich die Erde, auf der wir alle sind, kleine und große Menschen, von einem etwas zu hohen Punkt aus gesehen habe und daß sie mir — rette sie wer kann! — wie eine Zitrone erschien (…). Auf jener Höhe lacht man sich kaputt.«4 So ist es mit den veränderten Stand- und Gesichtspunkten: Die Welt von außen ist erkannt, der Weg ins Weltall noch weit, daran ändern auch die kurzen Wege zu Mond und Venus nichts. Aber die Welt in ihrem Innern, in ihrem Sosein ist noch kaum zureichend beschrieben, vor allen Dingen jene Welt nicht, die man sich statt der vorhandenen wünschen würde: eine, auf der die Ozeane und Kontinente in anderen Verhältnissen zueinander existieren, oder eine, die in sich wie Sphären jener mittelalterlichen Welt Darstellungen anderer Welten birgt; eine ganz andere, besondere, eine schönere und jedenfalls bessere.
Thomas Virnich ist es vorbehalten, das Unten und Oben unserer Weltkugel neu zu definieren, das Verhältnis von Innen- und Außenwelt anders zu formulieren. Er zeigt Welt auch, wie sie von innen aussieht; er begreift ihre zwiebelartige Schalenhaftigkeit, gibt Variationen von sich immer mehr verkleinern-den oder, in andere Richtung gesehen, immer mehr vergrößernden Proportionen wieder. Aus dieser Welt kann man die Erdteile wie Stöpsel herausziehen: Was von ihr dann bleibt, ist ein immer fragileres Rahmenwerk im Raum, ein Gebilde, dessen Löchrigkeit und Durchsichtigkeit zu immer schöneren Formulierungen im Raum führt, und schließlich steht diese Welt, durchblickbar wie keine vor ihr, da, offenbart ihre Rahmenkonstruktionen, ihre Dreischaligkeit, und ist umgeben von einer Vielzahl von Trabanten: alles Stücke dieser Welt, alles Teile von ihr und doch auch eigenständige bildhauerische Ereignisse. Das Ganze zusammenzufügen, eine Aktion, die der Künstler in lustvoller Performance ebenso vollführt wie sie zuvor auseinanderzunehmen, hat etwas mit einem Schöpfungsprozeß zu tun, auf den ich weiter oben anspielte. Der Künstler ist eben doch Rivale Gottes, aber er ist ein Schöpfer, der die Absurdität dieser Situation begreift: Sieht nicht die Welt eher wie eine Zitrone aus, wie ein Ball, wie etwas, mit dem sich spielerisch auseinanderzusetzen die schönste Lösung wäre?
4. homo ludens, creator mundi
Auch die Verursacher chaosübersäter Schreibtische stehen ja nach neueren Erkenntnissen der Psychologie in dem Ruf, daß sie eigentlich höchst strukturierte Denker sind. So könnte man das chaotische Universum, in dem der Bildhauer Thomas Virnich seine Laufbahnen zieht, als den Ursprung allen künstlerischen Seins zumindest bezogen auf seine Skulpturen ansehen. In diesem Universum hat nichts Bestand; auch die einmal gefundene Antwort auf die selbstgestellte Frage nach den möglichen Erscheinungsformen des Erdballs bleibt nicht bestehen. In vielfacher Weise hat Virnich Globen und Karten zu Visionen zusammengeknautscht, entwickelt, gequetscht, gebrochen: die Welt, die nur einen Kontinent aufzeigt, die Welt, die in einzelne Bahnen ihrer Oberfläche zerlegt ist, ja zusammengequetscht ist; die Kiste um die Kugel der Welt als das All; die Weltkugel als Gehirn, halbiert; vielfach sind die Möglichkeiten des Aufbruchs und der fortwährenden Reise. Der Künstler selbst, Thomas Virnich, der Herr über Hof und Atelier und die darin hausenden unendlichen Massen von Dingen, er selber sieht sich auf dem Wege. Wohin? In seinem >Sternenbuch< hat er formuliert: »In Spiralen ist der Aufstieg leichter. Wir werden Welten betreten, die wir noch nie betreten haben.« 5