Paradies hin und zurück

Thomas Virnich – Paradies hin und zurück

Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim, 08. März bis 01. Mai 2011

im Rahmen der Ausstellungsreihe  „Aschermittwoch der Künstler“ des Bischofs von Hildesheim

Kuratoren der Ausstellung: Gerd Winner, Michael Brandt

 


Text von Michael Schwarz

Thomas Virnich liebt Räume. Räume rufen nach Veränderung, Ergänzung, Räume wollen auf den Kopf gestellt werden, ausgeräumt oder mit anderen Objekten vollgestellt werden. Die Arbeit an Räumen, die Erfindung neuer Architekturen ist seine große Leidenschaft. Dabei geht es, so sagt Thomas Virnich, „um Emotionen, es geht darum, dass ich die Architektur nicht einfach nur wahrnehme, sie betrete, sondern sie liebe; um sie aber wirklich zu begreifen, muss ich […] etwas damit machen, vielleicht kann man dann die Architektur auch wieder anders sehen“ – die Architektur, den Raum und alles, was in diesem schon eingerichtet ist, sicher auch.
Dieses Mal war die Aufgabe allerdings gewaltig, denn Thomas Virnich betrat nicht nur einen klar gegliederten, gut beleuchteten Museumsraum, sondern fand in diesem eingerichtet die berühmte Bernwardstür vom Hildesheimer Dom
St. Mariä Himmelfahrt aus dem Jahre 1015, die im Roemer- und Pelizaeusmuseum bis zum Abschluss der Domsanierung 2014 ausgestellt wird. Die mächtige Bronzetür mit Szenen aus der Genesis und dem Leben Christi begrüßt den Besucher als Porta Salutis auf der dem Eingang gegenüberliegenden Wand. Thomas Virnich antwortet auf dieses Meisterwerk der ottonischen Kunst, diesen ersten Bilderzyklus der deutschen Plastik mit Bildwerken aus seinem Leben, dargestellt in einer ganz eigenen Formensprache und vorgetragen in der entschlüsselbaren Ikonografie seines Werkes. Dabei nutzt er den hohen, fast kubischen Raum mit seiner zum Hof hin offenen Fensterfront als Bühne, auf der sich die Werke wie die Figuren eines Theaterstückes versammelt haben. Das Stück trägt stark autobiografische Züge – wie wir noch sehen werden. Drei Figuren dominieren die Szene: der Bischof, der Künstler und der Tod, obwohl ihre Bilder nur als Abdruck in den beiden Doppelblöcken aus gebranntem Ton an der – vom Eingang aus gesehen – linken Wand erscheinen. Trotzdem sind sie die Hauptdarsteller. Der Bischof stellt die Verbindung zur Bronzetür her, in diesem Kontext ist er ohne Zweifel Bischof Bernward von Hildesheim. Dann der Künstler als Autor, ohne den es das Stück, das hier zur Aufführung kommt, nicht gäbe, und neben ihm der Tod, auch er nicht ohne Bedeutung für den Fortgang der Handlung.
Beide Tonskulpturen zeigen ihre Figuren erst im aufgeklappten Zustand. Während ein mittelalterlicher Wandelaltar sein Schnitzwerk nur an hohen kirchlichen Festtagen freigibt, sind die beiden Diptychen von Thomas Virnich permanent geöffnet und lassen sich zudem von allen Seiten betrachten. „Bischof“ und „Selbst – Tod“ entstanden in einer Zeit, in der sich der Künstler in großen Tonarbeiten mit Abformungen beschäftigte und dabei Lösungen fand, die unmittelbar auf diese beiden Arbeiten zuführten. Besonders die Arbeit „Zoo“ für das Institut für Zoologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg von 1998 mit seinen fünf nebeneinandergestellten Blöcken, in denen Abformungen und Aussparungen von Tieren sichtbar sind und in deren Innerem sich verlorene Formen vermuten lassen, bereitet die beiden in Hildesheim ausgestellten Werke unmittelbar vor. Allerdings fehlt dort das Dialogische des Figurenprogramms, denn der „Bischof“ entsteht erst im Kopf des Betrachters durch das Zusammenführen der beiden Negativformen. Und auch das von Cranach bis Corinth immer wieder behandelte Thema „Selbstbildnis mit Tod“ erschließt sich nur dem, der den Abdruck des Künstlers im ursprünglich nassen Ton erkennt und ihn auf das Skelett der nebenstehenden Stele bezieht. Sowohl die Wandlung, das Öffnen und Schließen von Teilen eines Programms, als auch das Programm selbst verbindet diese beiden zentralen Werke von Thomas Virnich in der aktuellen Ausstellungssituation mit der Bernwardstür und begründet den Titel „Paradies hin und zurück“.
In der Bernwardstür, die in ihrem linken Flügel Szenen aus dem 1. Buch Mose und rechts Szenen aus dem Leben Christi zeigt, stehen sich „Sündenfall“ (im Paradies) und „Kreuzigung Christi“ gegenüber: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.“ (1. Korinther 15,22) Der Sündenfall ist in dieser Auslegung Ausgangspunkt der Erbsünde, die durch den Opfertod Christi am Kreuz gesühnt wurde. Zwar lässt sich „Selbst – Tod“ von Thomas Virnich auf dieses Bildpaar der Bernwardstür beziehen, muss jedoch anders ausgelegt werden. Im Kontext der Ausstellung und unter dem vom Künstler mit Bedacht gewählten Titel beschreibt die Doppelstele eine Reise bis an den Rand des Todes – und wieder zurück. Denn Thomas Virnich verlor im Oktober 2003 durch eine Gehirnblutung das Bewusstsein, wurde ins künstliche Koma versetzt, sah das Paradies und kam zurück. Das zentrale Thema seiner Ausstellung zum Aschermittwoch der Künstler, das die Auswahl sämtlicher Werke für die Begegnung mit den Szenen der Bernwardstür begründet, ist die Erfahrung von Tod und Wiederkehr. In der Bronzetür steht „Noli me tangere / Himmelfahrt Christi“ der Szene „Erschaffung Adams“ gegenüber. Bei Thomas Virnich zeigt sich im „Paradies“ eine verführerische, nicht mehr unschuldige Eva umringt von freundlichen Tieren und üppigen Pflanzen – ohne Adam. In eigenwilliger Auslegung der Schöpfungsgeschichte interpretiert der Künstler das Paradies als Garten Eden, also als Sammlungsort der Gerechten nach dem Tode, an dem er – Thomas Virnich – jedoch noch nicht sein mochte: Paradies hin und zurück. Er ist umgekehrt und mit Hilfe und Unterstützung der Ärzte, der Familie und der Freunde zurückgekommen. In der Ikonografie der Ausstellung steht für diesen langen Weg das „Gehirn“ in der gleichen Vitrine wie das „Paradies“. Formal und materialtechnisch gehört die Arbeit zur Gruppe der Porzellanassemblagen, die in den letzten Jahren in großer Zahl entstanden sind.
Inhaltlich thematisiert und verarbeitet sie den Heilungsprozess des zentralen Nervensystems und die nicht nachlassende Unterstützung durch seine Nächsten, die als Karyatiden (weibliche Skulpturen, auf deren Köpfen in der griechischen Architektur ganze Giebeldächer ruhten) das Gehirn tragen. Die Arbeit, die als einzige nach 2003 entstanden ist, bestimmt im Kontext der Ausstellung den existentiellen Grundton und die Lesart der Werke in Bezug auf die Bernwardstür. Alle anderen Arbeiten – auch die beiden großen Keramikblöcke „Selbst – Tod“ und
„Bischof“ – hat der Künstler aus dem großen Fundus in seinem Atelier und auf dem Gelände des ehemaligen Schulhofes aufgrund dieser Erfahrung und in Bezug auf die Schöpfungsgeschichte und die Szenen aus dem Leben Christi ausgesucht. Diese Arbeiten gab es schon, als er aus dem Paradies zurückgekehrt war: die „Schlange“, die den ersten Menschenkindern mehr Macht versprach, wenn sie vom Baum der Erkenntnis essen würden, den „Gekreuzigten“, den „Engel“, der in der Bronzetür als Erzengel Michael bei der „Vertreibung aus dem Paradies“ und als Verkündigungsengel bei den „Drei Frauen am Grabe“ gleich mehrfach vorkommt, und das „Selbstporträt“ von 1987/92. Dieses Selbstbildnis, das den Künstler voller Lebens- und Schaffensfreude zeigt, ergänzt und erweitert das Paradiesthema. Allerdings weniger in der Absicht zu zeigen, wie schwach und verführbar der Mensch noch immer ist, sondern um ihn in einer neu gewonnenen Unschuld und fast kindlichen Spiellust darzustellen. Thomas Virnich sucht Erkenntnis, indem er mit den Dingen spielt, sie lange anschaut, sie mit den Händen formt, um sie dann – oft nach einer langen Probezeit – in unsere Welt zu entlassen. Von dieser Ungezwungenheit, diesem Wunsch, in einem fortwährenden Spiel zu vergessen, um Neues zu schaffen, erzählt das „Selbstbildnis“ von 1987/92.
Wir haben gesehen, dass die Ausstellung „Paradies hin und zurück“ in der Arbeit „Gehirn“ seinen Ausgangspunkt hat. In diesem Werk ist die existentielle Erfahrung aufgehoben, die – weil sie eine Grenzerfahrung war –  den Künstler und seine Arbeit verändert, aber auch bereichert hat. Die anderen Werke aus dem früheren Leben hat Thomas Virnich für die Begegnung mit den Szenen der Bernwardstür dazugestellt. Indem er aus Teilen (den Werken) ein Ganzes (die Ausstellung) formt, folgt er einer künstlerischen Strategie, die im eigenen Werk lange erprobt ist. Seit den 80er Jahren entstanden zahlreiche Arbeiten, die in zwei Ansichten gezeigt werden können, zum einen in der geschlossenen Form einer Bassgeige, einer Weltkugel oder eines Altartisches, zum anderen in einer geöffneten Form, bei der die Plastik in ihre Einzelteile zerlegt ist. Gerne hat Thomas Virnich diese Verwandlung selbst vorgeführt und dabei erzählt, dass ihn schon immer die verborgenen Seiten eines Gegenstandes, die Innenwelt der Außenwelt, interessiert haben. Beim Zusammensetzen verblüfft er sein Publikum regelmäßig durch die traumwandlerische Sicherheit, mit der er die Einzelteile wählt und in der einzig möglichen Reihenfolge wieder zu einem Ganzen zusammensetzt. Möglicherweise sieht er die Dinge von vornherein zerlegt oder, wie bei den „Fliegenden Katakomben“, die Architektur seiner Schule aus einer Perspektive unterhalb der Kellergewölbe, baut das Imaginierte nach und kann die Teile deshalb so mühelos wieder zusammensetzen.
Mit der gleichen Sicherheit hat Thomas Virnich aus den Arbeiten im Atelier eine Ausstellung zusammengestellt, für die die kleine „Paradies“-Skulptur den Anlass liefert, deren Herzstück jedoch das „Gehirn“ ist. Nur eine Frage muss offenbleiben: Wohin fliegt die „Kirche“ – in der Vitrine?