Die Welt steht Kopf
Auszug aus dem Text von Carl Friedrich Schröer
Zu den Arbeiten von Thomas Virnich
Vor über dreißig Jahren bezog Thomas Virnich mit wachsender Familie und ausufernden Ateliers eine alte, leerstehende Volksschule in Neuwerk, einem östlichen Stadtteil von Mönchengladbach. Das mit „Neuwerk“ passte prima, wie sich die Schule bestens eignete, um von hier aus neue „Welten“ (so ein früher Ausstellungstitel) zu konstruieren. Schließlich stammt Virnich selbst aus einer Lehrerfamilie. Die Schule wurde mit den Jahren mit all ihren Haupt- und Nebengebäuden, Schuppen, Kellern, Treppenhäusern, selbst dem Pausenhof und der alles umfriedenen Mauer zu seinem Zuhause und einer außergewöhnlichen Künstlervilla am Niederrhein, was die alte Schule keineswegs davor bewahrte, um- und ausgebaut, mehrmals zerlegt und neu zusammengesetzt zu werden.
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Was der Künstler einen „Prozeß der Aneignung“ nennt, ist eine unablässige Folge von Auspacken, Zerlegen, Ummanteln und Verwandeln. Eine Art künstlerischer Kernspaltung, um aus dem Material (bei Virnich hochaktives Alltagsmaterial) ein explosives Neuwerk zu gewinnen. Wie bei der Schule selbst, ging er auch mit dem Ausgangsmaterial seiner Plastiken vor. Konstruktion und Dekonstruktion, Zerlegen und Zusammensetzen, Entkernen und Ummanteln, Umstülpen und Auftürmen, Aufschneiden und Aufbrechen, werden so aufeinander bezogen und ineinander verschachtelt, daß einem schwindlig werden kann.
Sein großer, mehrteiliger Werkzyklus „Fliegende Katakomben“ (ab 2000), gibt von Virnichs Zugriff auf die Welt ein beredtes Beispiel. Die Formen entspringen unmittelbar den Schulgebäuden mit samt ihren Kellern und Fundamenten. In der aktuellen Ausstellung „Helter Skelter“ sind zwei neue Ausbaustufen zu sehen, die übermannshoch und auf dem Kopf stehend, Sateliten ähneln, die aus einer fernen Galaxie kommend und von der weiten Reise schwer mitgenommen, hier in der gläsernen Halle des Skulpturenpark Waldfrieden gelandet sind.
Wer das Werk von Thomas Virnich betrachtet, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es ist eine kunterbunte, überbordende, einsturzgefährdete Welt aus ineinander verschachtelten Kuben und Häusern, aus spielzeugklein dimensionierten Alltagsgegenständen und stark monumentalisierten Architekturmodellen. So sehr diese märchenhafte Spielzeugwelt, wahlweise für Zwerge oder Riesen, seinem stupenden Spieltrieb entspringt, so sicher baut der Künstler seine Plastiken auf einem soliden bildhauerischen Können auf. Sein künstlerisches Weltmodell bezieht, ganz ähnlich wie unsere Erde, seine künstlerische Spannung zwischen den Polen auf, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen. Aus dem Ineinander und Miteinander der Formen, Farben, Materialien und Vorgänge beziehen die Virnischen Figuren ihre Spannung und gewinnen ihr Spiel. Der Künstler fügt es und versucht sein Glück, dass es sich fügt. Nie aber läßt sich der Anteil des Einen oder Anderen klar trennen. So gesehen schafft Thomas Virnich skulpturale Happenings. Oder besser gesagt, er lässt ihr Entstehen zu. Die plastische Form ergibt sich aus der Negativform, das Oben bedingt das Unten, der bildhauerische Wille wird in seiner Abhängigkeit vom handwerklichen Geschick gezeigt. Die Änderung der Perspektive, der Tausch der Dimensionen, des Innen und Außen und Oben und Unten, der künstlerische Gestaltungswille (eingeschlossen die Zerstörungskraft) und das Gewährenlassen des schönen Zufalls.
Aber ist Thomas Virnichs Kunst nicht das genaue Gegenteil all dessen? Drangvolles Erfinden, überbordendes Formen, erzählerische Figürlichkeit, laute Farbigkeit, mithin Fülle statt Stille, Feuerwerk der Formen und des Materials, statt Formenstrenge und minimalistisches Geschenlassen.
John Cage etwa komponierte indem er eine Zufallscollage entstehen ließ, eine zufällig entstehende Reihung aus Alltagsgeräuschen ergab das Compositum.
Auch Virnich steht in der Tradition der Collage, die er wie kaum ein Zweiter für die Bildhauerrei aktivierte. Spielen, Sammeln, Schneiden, Sägen, Reißen, Kleben, Schaben, Schmelzen, Übermalen, Montieren und Demontieren sind die Grund(be)griffe seiner Arbeit. Virnichs wundersame Schwebezustände entstehen aus assoziativen Montagekoppelungen. Schöpferische Kraft und ihre Negativform, die Zerstörung, bringt er auf immer wieder wundervoll verstörende oder auch haarsträubende Weise in ein halsbrecherisches, labiles Gleichgewicht.
Wo von Thomas Virnichs Kunst die Rede ist, wird bald auch vom Spielen gesprochen. Dieser homo ludens entwickelt spielerisch lustvoll und scheinbar kinderleicht eine schwindelerregende Fülle an Formen und Figuren. Katakomben fliegen, die Welt steht Kopf.
Thomas Virnich vertraut bei allem auf sein Glück im Spiel: Handwerkliches Geschick, jahrzehntlange Erfahrung, tägliche Materialerprobung und eine stupende, unbändige Tüchtigkeit. Indem er sein plastisches Glück immer wieder auf die Probe stellt, läßt er es zu – art happens.