Umgestülpter Engel 2007-2008

Die Sammlung der Unikat-Multiples von Thomas Virnich aus den Jahren 1983-2007

Argauer Kunsthaus, Aarau
2. Mai – 22. Juli 2007

Museum Wiesbaden
Oktober 2007 – Januar 2008

Skulpturenmuseum Glaskasten Marl
2008

und weiter Stationen…

 


Zu den Editionen von Thomas Virnich

von Stephan Kunz

Die Geschichte beginnt, wie so oft: Es war einmal ein Unternehmer, der suchte bei einem Galeristen Rat, weil er ein künstlerisches Produkt als Kunden- oder Werbegeschenk haben wollte. Der Galerist verwies ihn auf einen jungen viel versprechenden Künstler aus seinem Programm. Dieser konnte bald darauf auch einen originellen Vorschlag präsentieren. Der Unternehmer war zufrieden und so wurden 800 Exemplare eines Multiples ausgeführt.
Der Künstler selbst hat die Produktion Überwacht, die Herstellung aber lief ohne sein Zutun – selbst Signatur und Bezeichnung wurden aufgedruckt

So oder ähnlich könnte es sich beim Multiple Empfänger/Sender zugetragen haben (WV 1). Der Auftraggeber, das Werbefernsehen des WDR, hatte allen Grund, zufrieden zu sein, denn Thomas Virnich thematisierte dessen zentrale Aufgabe von Senden und Empfangen, und auch der Künstler musste sich nicht leugnen: sein zweiteiliges, aufklappbares Objekt, das seine ‚Funktion‘ im Öffnen und Schließen findet, trägt charakteristische Wesenszüge seiner Kunst in sich.

Das Typische ist hier aber die Ausnahme Überblickt man die Editionen von Thomas Virnich, zeigt sich, dass der Künstler an dieser herkömmlichen Form des Multiples nicht weiter interessiert war — mit der einfachen Wiederholung einer vorgedachten oder vorgeprägten Form operiert er in der Folge in keiner Edition mehr und keine andere Edition stützt sich so sehr auf die industrielle Produktion. Thomas Virnich legt danach stets selbst Hand an — das ist fundamental für sein künstlerisches Selbstverständnis.

Wie aber kommt ein Künstler dazu, sich auf Editionen einzulassen, wenn sich doch sein ganzes künstlerisches Tun gegen die Wiederholung sträubt? Was für Möglichkeiten bleiben ihm, wenn ein Kunstverein zum Selbsterhalt seinen Mitgliedern kostengünstige Angebote machen möchte und den Künstler um entsprechende Gefälligkeiten bittet?

Gemäß Werkverzeichnis sind für den Kunstraum München erste Editionen entstanden bzw., wurden im Rahmen von Virnichs Ausstellung 1986 in dieser Institution gezeigt Der Künstler greift im Titel einer dieser Editionen das Dilemma auf: Wie teuer können Eier sein (WV 3). Teuer sind seine Eier, aber durchaus erschwingliche Kunst, Thomas Virnich präsentierte die Eierkartons in der erwähnten Ausstellung auf einem Tisch neben anderen kleinen Objekten. Der Entscheid, verschiedene Kartons mit ‚Eiern‘ zu füllen, die Gussform eines  Weihnachtsmanns mehrmals zu verwenden (WV 7) oder eine ganze Reihe von Spielzugautos abzuformen (WV 2), legte den Grundstein für die späteren Editionen. Der Rückgriff auf vorgefundene Behälter und massenhaft reproduzierte Gegenstände war hierfür entscheidend. Noch wurde aber keine Auflage bestimmt, noch waren die einzelnen Objekte nicht nummeriert. Die erste eigentliche Edition mit klar bestimmter Auflage, Nummerierung und Signatur entstand für den Museumsverein des Städtischen Museums Abteiberg in Mönchengladbach (WV 11). Die Arbeitsweise von Thomas Virnich macht es aber weiter schwierig, Editionen eindeutig zu definieren. Die Grenzen zum sonstigen Schaffen bleiben fließend.

Das hängt auch damit zusammen, dass sich der Künstler an die festen Regeln einer Edition nicht halten mag und Auflagen meidet. Aus diesem Widerstand schöpft er das Potential für seine Arbeit. So ist er der Langeweile entflohen, welche die Repetition mit sich bringt, und er hat die Variation zur treibenden Kraft gemacht. In bald 25 Jahren hat er eine reiche Fülle an Editionen realisiert (das Werkverzeichnis umfasst beinahe 90 Nummern), von denen jedes einzelne Exemplar ein Unikat ist, Dabei ist die Spanne der Variationsmöglichkeiten beträchtlich, gestützt auf das bildnerische Interesse des Künstlers. Er betont nicht nur die Spuren der manuellen Verarbeitung und hebt so die Einzigartigkeit und Individualität seiner Editionen hervor, sondern nimmt sich immer auch die Freiheit, den Spielraum seiner Ideen auszuloten und während der Ausführung von Exemplar zu Exemplar zu erweitern. Dabei manifestiert sich in erster Linie die prozesshafte Arbeitsweise, welche diese Kunst von Anfang an bestimmt und charakterisiert.

Die Manipulationen, die der Künstler aus und mit dem Material vornimmt, führen zu unterschiedlichen, oft unkalkulierbaren Resultaten, der Zufall wird bewusst mit einbezogen ebenso wie die Eigendynamik des verwendeten Materials: Exemplarisch für die Offenheit im Formfindungsprozess ist die Edition Turm II (WV 50). Thomas Virnich verwendet dafür kleine selbst gebrannte Ziegel. Was auf festem Grund und quadratischer Basis beginnt und zum veritablen Turm wachsen könnte, deformiert sich durch das unregelmäßige Mauerwerk mehr und mehr. Farbige Keramiksteinchen beleben wie archäologische Schichten die Struktur. Jeder rechte Winkel geht verloren, die Wände bauchen in alle Richtungen und aus dem Turm wird allmählich ein Gefäß. Nicht selten begegnen sich in den Werken von Thomas Virnich Zufall und Methode: Thematisiert wird das in der Würfelskulptur (WV 10), für die der Künstler gefundene Würfel Zufall als Modellierwerkzeuge verwendet (Methode), um eine Würfelbahn zu kneten, auf der die Würfel irgendwo platziert werden können.

Thomas Virnich benützt verschiedene Formteile, setzt Elemente und Fragmente unterschiedlich zusammen oder verändert Gestalt und Größe, Innerhalb einer Edition können auch die Gegenstände wechseln, die ummantelt, abgegossen oder ausgeschmolzen werden. Mindestens aber verändert sich die Oberflächenbehandlung bzw, die farbliche Gestaltung der einzelnen Objekte. Die sinnliche Lust kennt keine Grenzen, Die ungebremste Phantasie, der Formenreichtum und die Materialvielfalt kennzeichnen die Editionen von Thomas Virnich.

Seit Mitte der 1980er Jahre entstehen sie in immer größerer Zahl parallel zu seiner künstlerischen Entwicklung und sind eng mit ihr verbunden. Alle charakteristischen Merkmale der Kunst von Thomas Virnich zeigen sich auch in seinen Editionen. Mit der Opulenz paart sich hier das Provisorische und Vergängliche, zur Einheit tritt die Vielzahl, zum Ganzen das Fragment, Alles ist Teil eines Universums, das sich in Splittern spiegelt. Die Welt ist alles, was es gibt, und so dient denn auch alles und die ganze Welt dem Künstler als Ausgangspunkt fürseine Manipulationen, mit denen er die Möglichkeiten des künstlerischen Handelns untersucht.

Dabei treibt ihn auch eine grundlegende Reflexion seines eigenen Tuns. Besonders deutlich wird das in den Editionen. Der Künstler nimmt sie zum Anlass, Bildideen zu entwickeln und weiter zu treiben. Wie verschieden die einzelnen Exemplare einer Edition sein können, erfährt man am besten, wenn man mehrere nebeneinander sieht und vergleichen kann. Die Variationen machen aber nicht nur deutlich, was sich verändern kann, sondern auch, was gleich bleibt: Und das sind nicht zuletzt Grundfragen von Skulptur und Plastik, die sich losgelöst vom Inhalt einer Edition diskutieren lassen.

Überblickt man die Editionen von Thomas Virnich, zeigt sich, wie er immer wieder mit ganz elementaren Bedingungen operiert, Materialien auf ihre Eigenschaften untersucht oder sich mit räumlichen Dispositiven beschäftigt: mit Positiv und Negativformen, mit dem Verhältnis von Innen und Außen, Hülle und Kern. Er ist Bildhauer und Plastiker und weiß um den Unterschied: der Bildhauer schneidet, teilt und bricht, der Plastiker modelliert, formt und baut. Zuweilen mischen sich die beiden Bereiche oder werden bewusst kombiniert: Zum Beispiel wenn Thomas Virnich vier Holzklötze aufeinander montiert, sie mit weichem Blei ummantelt und dann mit der Axt der Länge nach spaltet (Baumstumpf WV 10). So direkt und unmittelbar kann es zu und her gehen, so einfach und rudimentär kann eine Edition von Thomas Virnich sein.

Es zeigen sich aber auch andere Wege und Umwege, um auf ganz elementare Bedingungen hinzuweisen: Für die Edition Kreuz (WV 42) hat der Künstler ein ehernes Bild des Gekreuzigten mit Ton ummantelt und es im Brennofen (in Umkehrung des Gießvorgangs) herausgeschmolzen. Zurück bleibt der etwas deformierte Abdruck der Figur Das Ganze kann man nun als blasphemischen Akt verstehen. Wird der Vorgang aber wiederholt und mit verschiedenen Christusfiguren ausgeführt, die ex negative unterschiedlich präsent bleiben, verkehrt sich der zerstörerische Akt ins Gegenteil. Thomas Virnich löst sich dabei aber auch vom Zeichen: Befreit von einer vordergründigen Interpretation richtet sich der Fokus auf den plastischen Vorgang und die bildnerische Struktur, die im gebrannten Ton erscheint.

Thomas Virnich führt uns damit an einen Punkt, wo sich das Bild und das abstrakte plastische Prinzip auf gleicher Augenhöhe begegnen. Ebenso verliert auch der Umgestülpte Engel in der Transformation durch das Umstülpen das Engelhafte (WV 72) und das Kopfteil (WV 65) seinen historischen Bezug. Denkt man die Geschichte von der anderen Seite her, also aus dem ungestalten Material heraus, kehren sich die Vorzeichen und aus der knetbaren Ton-Masse wachst urplötzlich ein Dinosaurier (WV 33) oder sonst eine ungerufene Erscheinung. Verbindend bleibt, dass jedes Werk als Resultat eines bildnerischen Vorgangs erkennbar wird, sei es, dass Thomas Virnich vom Bild zum Material oder umgekehrt vom Material zum Bild kommt.

Damit ist das Werk aber noch nicht abgeschlossen Es ist Teil des künstlerischen Konzeptes von Thomas Virnich, dass seine Werke weiter manipuliert und auch verschieden präsentiert werden können. Komplizierte Verschachtelungen wie man sie aus bekannten Werken wie Hausblöcke (1981/-985) oder Bassfutteral mit Abfoarmung (1985/86) kennt, sind im Rahmen einer Edition nicht möglich, das Prinzip aber findet sich auch hier, zum Beispiel in der 8-teiligen Skulptur Turm (WV 29), die aus einem Stück Holz geschnitzt wurde: lm verschachtelten Zustand ist es ein kompakter Würfel. Die Innenteile lassen sich aber ausziehen und als lange teleskopartige Reihe auslegen.

Das ist kein Einzelfall: Jede geschlossene Form kann unglaubliche Innenleben offenbaren. Da erscheint ein Bergrelief wie in Eiger, Mönch, Jungfrau (WV 19) oder es lässt sich ein Universum farbig glitzernder Keramikscherben entdecken (Steinziegel WV 44). Die Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben, ein Werk offen oder geschlossen zu präsentieren, den Inhalt als Fülle zu zeigen oder ihn auszubreiten, gehören konstitutiv zu diesen Editionen. Das Potential ist entscheidend, das Wissen um die Möglichkeit – und doch bleibt es immer auch als elementare Erfahrung wichtig, eine Edition so oder anders zu präsentieren und dabei die einzelnen Teile selbst in die Hand zu nehmen und mit den Passformen umzugehen.

Einen eigenen Bereich der Editionen bilden die Bücher. Aber Thomas Virnich wäre nicht Thomas Virnich, wenn sich dieser Bereich einfach fassen ließe In seinem Oeuvre setzt er die Vorzeichen immer anders: Wenn Bücher (auch Künstlerbücher) gemeinhin in Auflagen gedruckt werden, macht Thomas Virnich das Buch zum Unikat (Vgl. Thomas Virnich. Künstlerbücher, Ausst.—Kat‚ Burg Wissem, Museum der Stadt Troisdorf, Köln 2000). Ihn interessiert nicht das Buch, sondern die Plastik in Form eines Buches Das Öffnen und Schließen, das Verhältnis von innen und Außen, der Raum zwischen den Buchdeckeln, das Durchmessen des Raumes beim Blättern sind ebenso wichtig wie das Haptische, die Materialität. Wie wichtig ihm das Material, das Buch als Objekt und die räumliche Dimension sind, offenbart sich immer wieder: Aus einem einfachen Stück Holz wird ein Buch (WV 8), aus einem einzelnen Buch ein ganzes Haus (WV 6), Auch solche Transformationen gehören zu den Spezialitäten dieses Künstlers.

Dem zur Seite stehen die Bücher und Kataloge, die zu Einzelausstellungen erschienen sind und die der Künstler für weitere Editionen so Überarbeitete, dass sie ihre Funktion als Informationsträger einbüßen und zu Kunstwerken werden: zugeklebt, eingeschnitten, dick mit Farbe bemalt oder mit Blei ummantelt. In den gleichen Zusammenhang gehören die manipulierten Bildvorlagen, die sehr symptomatisch dafür sind, wie Thomas Virnich alles recycliert und in seine sehr objekt- und gegenstandsbezogene Sicht der Welt integriert. So nimmt er Abbildungen eigener Werke wie zum Beispiel das fast schon populäre Bassfutteral mit Abformung als Ausgangspunkt einer Edition, klebt das Bild auf Pappe, zerschneidet es in Analogie zum abgebildeten Werk in puzzleartige Teile und bindet diese wieder grob mit Draht zusammen (WV 25). Das in der Zeitschrift Art massenhaft reproduzierte Kunstwerk wird durch diese Verarbeitung wieder rehabilitiert und in den künstlerischen Kosmos zurückgeholt. Nicht anders verfährt er mit dem Objekt Bürste, das er auf einem Auktionskatalog abgebildet findet (WV 23). Und die Atelieraufnahmen mit Künstler, die zuweilen als Einladungskarten für Ausstellungen dienten, unterzog er ähnlichen Verfahren, um den Materialbezug des Künstlers, den das Bild zeigt, auch realiter zu vermitteln.

In auffallend vielen Editionen arbeitet Thomas Virnich mit Wiederholungen. Angeregt oder bestärkt durch die Aufgabe, Objekte zu multiplizieren, hat er die Wiederholung zum Thema gemacht und zum gestalterischen Prinzip erhoben. Aber statt einfach ein Objekt abzugießen und so für die Edition zu reproduzieren, eröffnet er sich dabei neue Spannungsfelder: indem er etwa die eine Hälfte eines gespalteten Holzklotzes mit seinem in Blei gegossenen Gegenstückes kombiniert und konfrontiert; oder indem er eine Muschel mit Sperrholz so nachbaut, dass die Naturfarm und das Kunstgebilde wie zwei Passformen zusammengehen (Muschelskutptur WV 48), Für Zwei Felsen (WV 39) hat er Ton zu einem amorphen Klumpen geformt und dem ein aus kleinen selbst gebrannten Tonziegeln gebautes Pendant zur Seite gestellt. Welche Form imitiert hier die andere? Oder imitieren beide eine dritte, den Felsen, den beide zu sein vorgeben?

Es zeigt sich, dass Thomas Virnich nicht nur die Rahmenbedingungen klassischer Editionen sprengt, indem er jede Edition als eine Reihe von Unikaten anlegt, sondern Überaus raffiniert und intelligent mit der Reproduktion spielt und das Thema in seinen Editionen reflektiert. Das zeigt sich schon in Nikolaus ist auch ein Weihnachtsmann (WV 7) und zieht sich bis zu den jüngsten Architekturmodellen weltberühmter Baudenkmäler (WV 81-83).

Immer wieder sind populäre Bilder Ausgangspunkte der künstlerischen Arbeit, und Thomas Virnich kokettiert mit dem billigen Bild, Er verwendet vielfach benützte Gussformen oder Baukastenmodelle und spannt den Bogen von Kunstreproduktionen aus dem Museumsshop (Venus von Milo WV 63; The Kiss WV 67) bis zum kitschigen Spielhaus. Aber: Die Allerweltsform dient ihm zur Herstellung von Unikaten, den Modellen haucht er neues Leben ein (und sei es auch nur ein leben, das zum Verfall führt) und das Plagiat wird wieder Kunst. Das Puppenhaus schließlich baut Thomas Virnich, fasziniert vom Raffinement der Konstruktion, mit Holz, Farbe und Leim nach (WV 54) und findet so zu einer Originalität und Echtheit zurück, die nur im Spiel und in der Kunst möglich sind und für die es da keine Grenzen gibt.

Stephan Kunz